Polarisierung als Herausforderung der Demokratie

Wolfgang Merkel - Foto: David Ausserhofer

Von Wolfgang Merkel

Der renommierte deutsche Politikwissenschaftler hält die Keynote zur Eröffnung der Tagung „Gespalten?“ (14.-16. Juni 2023). Der Beitrag ist in der Kranich-Ausgabe 02/2023 erschienen.

Es sind vor allem gesellschaftliche Konflikte, die die Politik, ihre Auseinandersetzungen und die Auswirkungen auf die Demokratie prägen. Die Auswirkungen können positive wie negative Wirkungen entfalten. Dies hängt vor allem von der Schärfe der Konflikte und ihrer Substanz ab. Friedliche, nach akzeptierten Verfahren ablaufende Konflikte, die die Gegner als Opponenten nicht aber als „Feinde“ betrachten, erhöhen in der Regel den demokratischen Pluralismus einer Gesellschaft. Sie fördern deren Offenheit, Lernbereitschaft und Fortschritt. Sie dienen der Demokratie. Konflikte aber deren Art und Schärfe die Gesellschaft in „Freund-Feind“ (Carl Schmitt) spalten, zerstören das innergesellschaftliche Vertrauen, die Toleranz und damit letztendlich die Demokratie.

In den westeuropäischen Nachkriegsgesellschaften war es lange die sozioökonomische Konfliktlinie, deren erfolgreiche Bearbeitung die religiösen, regionalen und kulturellen Trennlinien abschwächte. Die prägenden politischen Auseinandersetzungen und Diskurse verliefen entlang der sozioökonomischen Konfliktlinie zwischen Kapital und Arbeit, Staat und Markt, links und rechts. Es ging um Verteilung von Einkommen, Vermögen und Lebenschancen. Dieser essentielle Konflikt wurde seit der Industrialisierung hart ausgetragen. Es waren zunächst die Gewerkschaften und die Arbeiterbewegung und dann schließlich der Steuer- und Sozialstaat sowie seine Architekten, die programmatisch diffusen Volksparteien, die diesen Konflikt in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in Westeuropa entschärften. Den grundsätzlichen Widerspruch zwischen Kapital und Arbeit vermochten sie zwar nicht auflzuösen. Aber ihre Politik des institutionalisierten Kompromisses sicherte einen gewissen sozialen Zusammenhalt in der Gesellschaft. In Westeuropa stärker als in den USA oder Osteuropa nach 1989. In den USA, Polen und Ungarn testet die soziale wie politische Polarisierung die Grenzen gesellschaftlicher Belastbarkeit.

Nach dem Epochenbruch von 1989 veränderten sich allerdings auch die Konfliktstrukturen des Westens. Der Kalte Krieg war zu Ende. Dem wirtschaftlichen und politischen Liberalismus wurde eine große Zukunft vorausgesagt. Im temporären Niemandsland der Konflikte bildete sich eine neue, kulturell akzentuierte Konfliktlinie heraus. Sie durchschneidet seitdem die fortdauernde horizontale sozioökonomische Trennlinie. Der politische Wettbewerb und Diskurs ist in Europa wie Nordamerika zweidimensional geworden. Insbesondere die kulturellen Diskurse haben sich dabei in den Vordergrund geschoben. Auf dem einen Pol der kulturellen Konfliktlinie befinden sich die mit hohem Human- und Sozialkapital ausgestatteten akademisierten neuen Mittelschichten. Sie leben urban, sind ökonomisch privilegiert, folgen einem kosmopolitischen Weltbild. Der Nationalstaat ist ihnen Relikt des 20. Jahrhunderts. Sie insistieren auf offenen Grenzen, bevorzugen eine liberale Migrationspolitik, betonen die Gleichberechtigung aller Geschlechter und gleichgeschlechtlicher sexueller Präferenzen. Sie legen Wert auf eine gendergerechte Sprache. Der Klimapolitik räumen sie absolute Priorität ein. Ökonomisch zählen sie zu den Begünstigten unserer Gesellschaften. Am anderen Pol der Konfliktachse sammeln sich die Kommunitaristen. Sie verfügen über einen geringeren formalen Bildungsgrad, befürworten einen starken Nationalstaat von dem sie strikte Migrationskontrolle, sozialen Schutz und finanzielle Förderung erwarten. Gendergerechte Sprache ist ihnen nicht wichtig, Ökonomie rangiert vor Ökologie. Sie neigen eher zu autoritären denn libertären Lebenseinstellungen. Sie zählen zu den weniger Begünstigten unserer Gesellschaft. Nicht wenige finden ihre politische Heimat bei den Rechtspopulisten, manche bei linken Traditionalisten.

Beide Gruppen trennt ein tiefer kultureller Graben. Eine wechselseitige Sprachlosigkeit, Verachtung oder gar Feindschaft befestigt ihre Lager. Woher kommt das? Ein wichtiger Grund liegt im zunehmenden Moralismus der Politik. Moralismus aber ist nicht Moral. Ohne Moral kann es keine gerechte und humane Politik geben. Moralismus dagegen ist eine abwertende Form der Moraläußerung. Sie ist eine selbstgerechte Stilisierung der eigenen moralischen Position, eine Spielart des Egozentrismus, eine eitle Identitätsversicherung, die auf den Ausdruck der eigenen moralischen Überlegenheit verweist. Ein solcher Moralismussüberschuss prägt bisweilen das Lager der linksliberalen Kosmopoliten. Die andere Seite laboriert an einem Überschuss von Nationalismus und Traditionalismus. Die semantischen und normativen Brücken zwischen den Lagern sind kaum mehr begehbar. Der neue binäre Code heißt: Wahrheit versus Lüge, Moral versus Unmoral, Wissenschaft versus Leugnung, Nationalismus versus Universalismus. Gegner werden zu politischen Feinden. Dissidenz wird von den Diskursführern entmoralisiert. Die verhärteten kulturellen Diskurse und der Verlust von Empathie und Kompromiss markieren den Übergang vom lebendigen Pluralismus zur verständnis- und kompromisslosen Polarisierung. In der neueren Polarisierungsforschung werden deshalb demokratisierende und demokratiegefährdende Polarisierung unterschieden. In den Klassengesellschaften Lateinamerikas beispielsweise wird die extreme ökonomische Ungleichheit nicht ohne Mobilisierung und Polarisierung zu überwinden sein. Demokratie und Kompromisse zahlten dort noch stets auf die Konten der Herrschenden ein. Dies war in den demokratischen Gesellschaften Europas so nicht der Fall. Es waren die Wahlzettel, die den unteren Schichten eine gewisse Mitsprache öffneten. Der Demokratieforscher Adam Przeworski nannte sie zu Recht die paperstones der Arbeiterklasse im 20. Jahrhundert.

Die vier letzten großen Krisen westlich-demokratischer Gesellschaften haben zwar erhebliche wirtschaftliche und soziale Konsequenzen, wurzeln aber nicht primär im Ökonomischen. Migrations-, Klima-, Coronakrise und die Positionierung zu Waffenlieferungen an die Ukraine sind moralistisch kontaminiert. In all diesen Krisen haben sich Lager gebildet. Migrations- und Flüchtlingsbefürworter standen Migrationsskeptikern oder gar Fremdenfeinden gegenüber, Impfbefürworter den Impfgegnern, Klimakrisenleugnern jenen, die die Bekämpfung der Erderwärmung als das höchste Zeil jeglicher verantwortungsvollen Politik betrachteten. In Politik, Gesellschaft, analogen wie insbesondere den digitalen Medien wurden die Konflikte nicht ent-, sondern verschärft. Jede Seite versprach sich Positionsgewinne.

Was ist zu tun, um die beginnende Dynamik bösartiger Polarisierung zu brechen? Wir müssen den Moralismus in Gesellschaft, Wissenschaft und Politik beenden und durch eine Moral der kritischen Selbstreflexion und Verständigung ersetzen. Wir müssen erkennen, dass in einer pluralistisch-demokratischen Gesellschaft um Interessen und Werte gerungen werden kann und muss. Der andere ist nicht der Feind. Rassismus, Sexismus und Fremdenfeindlichkeit müssen mit guten Gründen bekämpft werden. Es gibt rote Linien. Das geht vor allem gegen den grassierenden Rechtspopulismus. Es sind aber nicht die selbsternannten kulturellen Avantgarden, die die Definitionsmacht über die Begriffe für sich reklamieren können. Die müssen immer wieder diskursiv gezogen und können nicht über die Feuilletons dekretiert werden. Es muss ein verständigungsorientierter Diskurs geführt werden. Es geht letztendlich um Inklusion nicht Exklusion. Demokratie braucht Toleranz und Dissidenz. Beides kann weh tun. Wenn wir das begreifen, werden es die Polarisierung und ihre Profiteure schwer haben.

Wolfgang Merkel ist Direktor em. am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB) und Mitglied der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften. Er forscht zu Fragen der Demokratie und Systemtransformation.

Foto: David Ausserhofer