Erschöpfung und soziale Energie

Hartmut Rosa im Gespräch mit Hans Peter Graß
Der deutsche Soziologe und Politikwissenschaftler ist vor allem wegen seiner Resonanztheorie einer breiten Öffentlichkeit bekannt geworden. Bei der 7. Salzburger Friedenstagung wird Rosa die Keynote am Eröffnungsabend halten. Davor hat er dem Kranich ein Interview gegeben (Ausgabe 2/2025).
Kranich: Erschöpfung wird von uns sehr stark als individuelles Phänomen wahrgenommen. Dabei gibt es natürlich auf der Ebene der von Ihnen beschriebenen Resonanzachsen viele, die auch erschöpft sind. Wo nehmen sie Erschöpfung in diesem breiteren Kontext wahr?
Hartmut Rosa: Ich glaube tatsächlich, dass man verschiedene Formen von Erschöpfung in allen möglichen Zusammenhängen sehen kann. Wir reden z. B. auch davon, dass unsere Böden ausgelaugt und erschöpft sind. In gewisser Weise könnte man sagen, wir haben unsere Ökosysteme erschöpft. Wir haben sie ausgebeutet, mit extra aktiven Industrien und auf alle möglichen anderen Weisen. Wir haben ihnen das Atmen schwer gemacht. Und im sozialen Bereich diagnostiziere ich tatsächlich so etwas wie eine kollektive Erschöpfung. Ich habe sogar schon von einem kollektiven Burnout gesprochen.
Wir können daran festmachen, dass wir tatsächlich eine Reihe von Aufgaben sehen, von denen wir denken, die müssten wir politisch angehen, zum Beispiel die Ungleichheit bekämpfen, etwas gegen den Klimawandel, etwas gegen den Krieg tun und stellen aber fest, dass es überhaupt keinen Hebel zu geben scheint, dass die Kraft ausgeht, das anzugehen, der Schwung oder auch die Selbstwirksamkeitsüberzeugung.
In vielerlei Hinsicht nehmen wir diese Erschöpfung auch auf der intermediären Ebene wahr, auf der Ebene von Organisationen, in Universitäten oder Schulen, wo ständig Menschen sich sagen, „man müsste“, „jemand müsste mal“, aber nichts scheint sich mehr zu bewegen.
Kranich: Wir begeben uns da offensichtlich in Zwänge, auch noch innovativ und positiv sein und permanent partizipieren zu müssen.
Hartmut Rosa: Die Gefahr besteht darin, dass man denkt, man müsste das auf dem immer gleichen Weg tun und nur mehr investieren. Eigentlich rede ich in meiner Analyse von einer doppelten Energiekrise, die aber immer die gleiche Form hat. Das eine sind sozusagen die physischen Energien: Wenn wir an Kohle, Wasserstoff, Sonnenenergie denken, dann sehen wir, dass wir immer mehr hineinstecken müssen, nur um das Bestehende zu behalten und die Infrastruktur
nicht zerfallen zu lassen.
Aber in der psychischen Verfassung ist das häufig ähnlich. Menschen sagen, wir müssen einfach mehr tun, wir müssen raus gehen, wir müssen wandern, um aus der Seelenlähmung wieder herauskommen und versuchen, auf dem Weg aus der Erschöpfung herauszukommen auf dem wir in sie hineingeraten sind. Wohingegen wir tiefer graben müssen, um zu schauen, wo kommt das eigentlich her und wie können wir auf anderen Wegen damit umgehen.
Kranich: Ich lese gerade den neuen Roman von Tomas Espedal, in dem schreibt er: „Und zum ersten Mal verspürte er, wie gut es sein kann, erschöpft und glücklich zu sein.“ Sehen Sie das als Widerspruch oder sagen sie, dass Erschöpfung auch bereichernd sein kann?
Hartmut Rosa: Da muss man genau unterscheiden. Wir kennen die Erschöpfung, unter der wir leiden, als Gesellschaft leiden, und ich denke, das ist tatsächlich verbreiteter, als man denkt. Das eine ist, dass man denkt, nur man selber habe das Problem und man mache etwas falsch. Das andere ist, dass wir denken, jetzt gerade, weil die letzte Woche so stressig war, sind wir erschöpft – aber das wird nicht anders. Auch Burnout und Depressionen werden als Erschöpfung bezeichnet. Das sind aber Formen, bei der ich sagen würde, das wäre einfach falsch, die als Glück zu bezeichnen.
Aber jeder kennt eine andere Form von Erschöpfung. Beim Skifahren zum Beispiel merke ich immer, dass ich das Gefühl habe, die Zeit dehnt sich ewig und das führt zu einer Erschöpfung, die natürlich Glück ist, pures Glück. Wo liegt der Unterschied, wenn ich abends nach einem langen Arbeitstag mit Katzenvideos auf dem Sofa liege oder den ganzen Tag Fußball gespielt habe? Ich schreibe gerade ein Buch zu „Situation und Konstellation“. Die Hauptthese lautet, dass es zwei Formen der Tätigkeit gibt: Einmal gibt es das Handeln zum Beispiel, eine Mahlzeit zu kochen, Dafür muss ich nachdenken. Was mache ich? Was kaufe ich? Womit würze ich? Wie lange lasse ich das Essen im Ofen? Wenn ich handle, dann bin ich mit all meinen Sinnen in eine Situation involviert.
Konsultatives Handeln aber bedeutet Vollziehen. Viele Handlungen, die uns erschöpfen, sind Vollzughandlungen. Sie und ich und wir alle vollziehen den ganzen Tag und merken irgendwie: das ist nicht Handeln. Ich vollziehe, was mir vorgegeben ist. Das geht schon beim Spielen los. Als Kinder zum Beispiel hatten wir früher Legosteine und dann haben wir gebaut und das ist Handeln. Kinder bauen dann das Haus, welches sie gerade gesehen haben oder das Haus von dem sie träumen. Ich zum Beispiel habe als Kind Häuser auf Rädern gebaut und da konnte man mich drin erkennen. Heute kriegen Kinder ganz häufig vorgefertigte Anleitungen und das kann man dann richtig oder falsch zusammensetzten. Aber das Problem ist: Das ist eigentlich nicht Handeln, das ist Vollziehen. Der subjektive Störfaktor wird geradezu ausgeschaltet, damit es perfekt wird.
Und meine These lautet jetzt – und da schließe ich jetzt an Eva Illouz an – dass uns Emotionen Handlungsenergie geben. Wenn ich den ganzen Tag gezwungen bin, meine emotionale Involviertheit auszublenden oder sie einfach irrelevant wird, dann bin ich am Ende des Tages total erschöpft und zwar der negativen Art. Wohingegen, wenn ich den ganzen Tag in Situationen situativ handle, dann bin ich am Abend glücklich erschöpft und am nächsten Morgen wieder voller Energie.
Kranich: Sie bringen aber nicht nur das Ich mit dem Handeln in Verbindung, sondern auch soziale Energien. Dieses gemeinsame Handeln schafft offensichtlich nochmal zusätzlich Energie.
Hartmut Rosa: Ja das ist mir ganz wichtig und deshalb ist dieser Schritt auch nur ein Zwischenschritt auf dem Weg zu der Theorie der sozialen Energie. Ich nehme tatsächlich wahr, dass es ein Fehler in unserem Denken ist, Energie als einen psychischen Besitz zu konzeptualisieren. Dabei kann man natürlich bei einer individuellen Erschöpfung ansetzen: Denn wenn ich abends nach einem Tag des Vollziehens völlig erschöpft auf der Couch sitze und denke, dass ich es nicht mal mehr die Treppe hoch schaffe zum Schlafzimmer und dann kommen ein paar Freunde vorbei und sagen: „Lasst uns doch Fußball oder Kartenspielen gehen“, dann habe ich plötzlich wieder Energie. Wenn ich dann wieder nach Hause komme, dann habe ich mehr Energie, als ich sie vorher hatte. Da sieht man, sie kann gar nicht in mir gewesen sein, sondern es gibt tatsächlich etwas – ich nenne das „Zirkulierende soziale Energie – die kein Besitz ist und auch keine individuelle Eigenschaft, sondern die im Zwischenraum entsteht, also zwischen Menschen, indem gemeinsame Handlungskontexte erschlossen werden, in der Handlungsenergie geradezu entsteht.
Ich finde Hannah Arendts Gedanken der Natalität da ganz hilfreich. Die Geburt des Neuen entsteht nicht bei mir oder bei einer anderen Person oder auch nicht in der Aggregation von individuellen Dingen, sondern in einem zwischenmenschlichen Raum, in dem man sagen kann, die „agency“, also das Handlungszentrum verschiebt sich in die Mitte, es ist nicht bei den Individuen. Man kann aber sagen – die Resonanztheorie führt mich in diese Richtung – dass das auch geht, wenn ich einen Tag Ski fahre. Da geht es nicht nur um mich und nur um meine Energie. Die Energie ist zwischen mir und der Welt da draußen. Ich bin dabei in eine lebendige Energie eingebettet.
Kranich: Sie haben erwähnt, dass wir auch auf erschöpfte Systeme reagieren. Wie kann es gelingen, in die Systeme hineinzukommen, also diese so zu gestalten, dass sie uns eben nicht erschöpfen?
Hartmut Rosa: Was ich bis dato beschrieben habe, sind interaktive Prozesse, die geradezu Energie zu erzeugen scheinen, aber ob sie das tun, das hängt natürlich vom institutionellen Kontext, also von den Systemen ab. Wir operieren ja in systemischen Zusammenhängen und da gibt es solche, die Interaktionsformen hervorrufen, welche Energie erzeugen, Handlungsvisionen und Handlungskraft und es gibt Kontexte, bei denen man eigentlich sagen kann, dass sie uns die Energie rauben. Das geht schon bei der Gestaltung los: Ein Betonbau, in dem wir hintereinander sitzen und nicht einander zugewandt, ist vermutlich ein Kontext, welcher uns eher auslaugt. Und ich glaube, man muss auch sehen, was man mit Systemen jeweils meint.
Natürlich gibt es auch so etwas wie historische Situationen und es kann gut sein, dass Narrationen in einem Kontext viel Energie freisetzen, also viel Synergie und Natalität erzeugen und das dann 20 Jahre später nicht mehr tun, weil sie alle schon kennen, weil sie ausgelaugt scheinen, weil der historischen Situation kein Sinn mehr entlockt werden kann.
Kranich: Und weil sie wahrscheinlich auch unverfügbar ist.
Hartmut Rosa: Ja genau. Man kann das Entstehen von sozialer Interaktionsenergie, also zirkulierenden sozialen Energien, nicht herstellen. Die Unverfügbarkeit würde ich für die Resonanz-Theorie, genauso wie für die sozialen Energien verstehen.
Kranich: Vielen Dank für das Gespräch.
Foto: Jürgen Scheere