Sich sorgen um Demokratie?

Tamara Ehs - Bildrechte: Tamara Ehs

Tamara Ehs im Gespräch mit Gunter Graf

Im Rahmen der Tagung „Gespalten?“ (14.-16. Juni 2023) hält Tamara Ehs die Keynote “Krisendemokratie”. Der Beitrag ist in der Kranich-Ausgabe 02/2023 erschienen.

Kranich: Viel ist aktuell von gesellschaftlichen Polarisierungen die Rede. In welchen Bereichen sehen Sie aktuell Polarisierungstendenzen und wie äußern sich diese?

Tamara Ehs: Polarisierung bedeutet, dass sich Meinung und Wahlverhalten nicht mehr in der Mitte konzentrieren, sondern zu den Rändern wandern. Wenn die gemäßigte Mitte ausdünnt, sprechen wir von einer Zunahme der Polarisierung. In Österreich und vielen anderen Staaten verläuft sie asymmetrisch: Der Zuspruch nach rechts fällt größer aus als nach links. Wir erleben deshalb auch eine Verschiebung des politischen Koordinatensystems, wobei ehemals rechte Positionen in die Mitte (der Parteien, der Gesellschaft) wandern.

Die Krisenhaftigkeit unserer Zeit befördert den Auftrieb autoritärer Kräfte. Die Abstiegsängste einer in Bedrängnis geratenen Mittelschicht begünstigen eine affektive Polarisierung, die die Politikgestaltung erschwert.

Kranich: Sie verstehen sich auch als demokratische Sorgearbeiterin: Muss man sich um die Demokratie Sorgen machen im Kontext einer polarisierten Gesellschaft?

Tamara Ehs: Wenn ich meine Tätigkeit als Demokratiewissenschafterin und Beraterin als „Sorgearbeit“ bezeichne, dann im Sinne des „Sichkümmerns“. Demokratie bedarf der ständigen Aufmerksamkeit, ist nie ein für alle Mal erreicht, sondern muss gehegt und gepflegt werden, um Bestand zu haben. Ich verstehe sie als Kulturtechnik, die wir lernen und praktizieren müssen wie rechnen, schreiben, lesen. Sie setzt Eigenschaften wie Empathie, Solidarität und Gemeinwohlorientierung voraus. Wie in der klassischen Care-Arbeit müssen wir auch bei unseren politischen Entscheidungen über uns selbst hinaus denken und bewusst sein, dass wir etwa am Wahltag nicht bloß wählen, wer für uns, sondern ebenso sehr, wer für andere sprechen soll. Und: Demokratie ist mehr als wählen.

Man soll sich um die Demokratie kümmern, weil Österreich zwar im internationalen Vergleich weiterhin eine stabile Demokratie ist, aber Abstufungen hinnehmen musste. Die Probleme betreffen die politische Kultur, Transparenz und die deliberative Komponente. Die Handhabung der Coronakrise und Skandale wie die Inseratenaffäre trugen dazu bei, dass unsere Gesetzgebung und ihre Durchsetzung nicht so transparent, demokratisch breit getragen und vorhersehbar sind, wie es sein sollte. Hinzu kommen Verschlechterungen bei der Pressefreiheit durch Angriffe auf Journalist:innen, wie Reporter ohne Grenzen aufzeigen.

Kranich: An welchen Punkten muss man ansetzen, damit ein demokratischer „Pluralismus an Meinungen“ positive Impulse in einer Gesellschaft freisetzt? Und dass es nicht zu gesellschaftlichen Spaltungen und einem „vergifteten“ gesellschaftlichen
Klima kommt?

Tamara Ehs: Wir müssen neue Institutionen des demokratischen Dialogs schaffen und die Diskussionen raus aus den Echokammern der Social Media wieder in die reale Begegnung holen. Seit einiger Zeit kommen vermehrt Bürgerräte zum Einsatz. Es geht darum, einen Raum zu schaffen, in dem Bürger*innen vermittelt durch geschulte Moderator*innen über Partei- und oftmals verhärtete Weltanschauungsgrenzen hinweg miteinander ins Gespräch kommen; darum, gute Bedingungen zu schaffen, um über schwierige Themen zu reden und zu einer gemeinsam getragenen Entscheidung zu gelangen: vom bloßen Bauchgefühl zur informierten Meinung.

Tamara Ehs ist Politikwissenschafterin und Demokratieberaterin für öffentliche Institutionen und die organisierte Zivilgesellschaft. Im Sommersemester 2023 ist
sie Gastwissenschafterin am Institut für Politikwissenschaft der Ungarischen Akademie für Wissenschaften in Budapest.

Gunter Graf ist Philosoph und Studienleiter in St. Virgil Salzburg.

Das Interview ist eine gekürzte Fassung des Gesprächs von Gunter Graf mit Tamara Ehs im Virgil Magazin 1/23.

Fotorechte: Tamara Ehs