Sicherheit oder Scheinsicherheit

Kritische Anmerkungen zur militärischen Hochrüstung Europas
Von Hans Holzinger (14. März 2025)
EU-Kommissionspräsidentin Ursula van der Leyen hat in Reaktion auf Donald Trumps neue Geopolitik verkündet, dass die EU 800 Milliarden Euro für Rüstung ausgeben wird. Das Motto: Wir werden uns nun selbst verteidigen. In einem vom Deutschlandfunk zitierten Weißbuch der EU-Kommission wird festgehalten, dass die Kapazitäten für die „extremsten Szenarien“ gestärkt werden sollen, also einen Angriff Russlands auf Europa. Das Geld soll nicht von der EU kommen, sondern von den Mitgliedsstaaten selbst, jedoch mit günstigeren Kreditbedingungen sowie der Lockerung der Schuldenregeln.
Macht mehr Rüstung Europa tatsächlich sicherer? Dazu gibt es zwei Positionen. Die einen warnen vor Putin, dass er auch Europa angreifen könnte – ein vehementer Vertreter dieser Ansicht ist der Nato-General Mark Rutte. Russland stellt auch nach Ansicht der EU-Außenbeauftragten Kaja Kallas eine existenzielle Bedrohung für die Sicherheit der Europäischen Union dar. Es werden Parallelen zur anfänglichen Appeasementpolitik Frankreichs und Englands gegen Hitler gezogen.
Andere bezweifeln, ob uns mehr Aufrüstung sicherer macht, ob diese nur eine Scheinsicherheit suggeriert. „Man kommt um den Frieden nicht herum, wenn man sich mit dem Krieg auseinandersetzt,“ so die Friedensforscher Hendrik Simon und Lothar Brock vom Peace Research Institut Frankfurt. Das sei vor allem mit Blick auf die wenig produktive Polarisierung zwischen sogenannten „Kriegstreibern“ und „Friedensträumern“ in der bundesrepublikanischen Diskurslandschaft notwendig. Die Polarisierung enge den Diskurs auf Sicherheit und Kriegstüchtigkeit ein. Doch „Sicherheit“ und „Frieden“ schließen einander nicht aus, so die beiden: “Wir plädieren entsprechend für ein „Mehr“ in den öffentlichen Debatten über den Ukraine-Krieg, das den Friedensbegriff wieder ins Zentrum der Debatten um eine zukünftige europäische Ordnung stellt. Kurzum: Politik und Wissenschaft müssen gerade in den Debatten über den Krieg auch mehr über den Frieden nachdenken.“ Gesprochen wird von einer „Tragik der Sicherheitspolitik“, man kann es auch Dilemma nennen: „Soweit es mit Aufrüstung verbunden ist, schafft das Streben nach Sicherheit immer neue Unsicherheiten.“
Hendrik und Brock plädieren für einen Realismus, der sich an der Schaffung von Frieden orientiert, das erfordere Kompromisse, die nicht immer einfach seien. Mit Verweis auf die deutsche Teilung nach der Beendigung des Zweiten Weltkriegs urgieren sie Kompromisse auch im Krieg gegen die Ukraine. Es müsse heute wie in der Zukunft um zweierlei gehen: „um die Beendigung einzelner Kriege wie jenem in der Ukraine, im Nahen Osten, im Sudan, und um die Stärkung der Institutionen und Verfahrensweisen, die einer verständigungsorientierten Bearbeitung von Konflikten dienen.“
Reale Bedrohungsanalyse statt weitere Hochrüstung
Die Friedens- und Konfliktforscherin Corinna Hauswedell kritisiert gegenüber dem Westdeutschen Rundfunk, dass beim EU-Sondergipfel in Brüssel über 800 Milliarden Euro gesprochen wurde, ohne dass es eine Analyse der Bedrohungslage gebe. Das hält Hauswedell aus friedenswissenschaftlicher Sicht für “ausgesprochen unseriös und auch risikoreich”. Zu einer Bedrohungsanalyse gehöre der Vergleich vorhandener Rüstungspotenziale: “Die sehe ich im Augenblick in der offiziellen Politik nicht.” Eine Untersuchung der Friedensforscher Herbert Wulf und Christopher Steinmetz, die kürzlich im Auftrag von Greenpeace erstellt wurde, zeigt: Die NATO ist Russland finanziell überlegen – auch ohne die USA.
Die Rüstungsausgaben Russlands liegen laut Hauswedell zwischen 300 bis 350 Milliarden US-Dollar. Bei den NATO-Staaten ohne die USA seien es hingegen etwa 430 Milliarden US-Dollar. Die Greenpeace-Studie komme deshalb zum Schluss, dass Aufrüstung Geldverschwendung sei: “800 Milliarden Euro sind kein strategisches Sicherheitskonzept.” Ein solches bedeute vor allem diplomatische Anstrengungen, so Hauswedell gegenüber dem WDR: “Das erwarte ich von der EU.” Man müsse darüber sprechen, was das konkrete Ziel der großen Summen sei.
Weil die EU ein zu geringes Gewicht habe und weil es nicht mehr darum gehe, den Krieg fortzuführen, sondern einen halbwegs gerechten Frieden zu erreichen, sollten die EU-Staatsoberhäupter den Kontakt mit all den Staaten (v. a. aus dem Globalen Süden) suchen, die Friedensvorschläge auf den Tisch gelegt haben – so ein Vorschlag des österreichischen Friedensforschers Werner Wintersteiner, der der EU Phantasielosigkeit und Panik vorwirft.
Sich einstellen auf eine multipolare Welt
Um nicht falsch verstanden zu werden. Putins Krieg gegen die Ukraine, der nun drei Jahre dauert, ist völkerrechtswidrig. Er hat viel Zerstörung und Leid gebracht – wie jeder Krieg. Umso dringender ist es, spät aber doch, einen Frieden zu finden, der mit Kompromissen einhergehen wird müssen. Verantwortungsethik schlägt Gesinnungsethik. Es wird auch, um dauerhaften Frieden zu erreichen, eine Sicherheitsarchitektur für ganz Europa brauchen, die auch Russland einschließt. Das sind die Lehren von der gemeinsamen Sicherheit, mit denen der Kalte Krieg beendet werden konnte. Wir können hier auf historische Erfahrungen nach dem Prinzip der gegenseitigen Sicherheit über Verträge zurückgreifen. Es wird daher auch einen neuen Modus Vivendi mit Putin geben müssen, solange er an der Macht ist.
Wir leben in einer hochmilitarisierten Welt. Über 2 Billionen Dollar werden mittlerweile im Jahr für Militär und Rüstung ausgegeben, so das Friedensforschungsinstitut SIPRI. Und wir steuern auf neue geopolitische Zuspitzungen zu. Der Big Clash wäre eine militärische Konfrontation mit China, wie etwa der Philosoph Richard David Precht warnt. Er fordert ein „Jahrhundert der Toleranz“. In der Diktion der Friedensforschung geht es um eine multipolare Weltordnung, in der miteinander Handel betrieben wird und in der Konflikte durch Diplomatie und Verträge gelöst werden.
Auch Hochrüstung stimuliert die Wirtschaft, wie Medienschlagzeilen verkünden: „Europas Rüstungsindustrie im Höhenflug“ oder „EU-Aufrüstung: Wie Österreich profitiert.“ Reich werden damit aber nur wenige. Die Militarisierung verstellt nicht nur den Blick auf kooperative Lösungen, sondern ist auch eine wesentliche Umweltbelastung, worauf die Scientists for Future hinweisen: Wenn die Militärs der Welt ein Land wären, hätten sie den viertgrößten CO2-Fußabdruck, größer als der Russlands. Eine Studie ergibt, dass wahrscheinlich 5,5 % der globalen CO2-Emissionen den Militärs der Welt zuzurechnen sind. In den Daten der UN-Klimaberichte werden diese Emissionen nicht berücksichtigt, weil einige Staaten aus sicherheitspolitischen Gründen keine Angaben machen. Es handelt sich um einen „blinden Fleck in der Klimabilanz“. Der russische Angriff auf die Ukraine hat in den vergangenen drei Jahren 230 Millionen Tonnen an CO 2-Emissionen verursacht, so eine aktuelle Studie der Initiative on GHG Accounting of War. Das ist etwa so viel, wie Österreich, Ungarn, Tschechien und die Slowakei zusammen im Jahr emittieren.
Und: Die Mittel, die für eine weitere militärische Hochrüstung ausgegeben werden, fehlen uns für die Bearbeitung jener Herausforderungen, die unsere Sicherheit und die folgender Generationen massiv bedrohen werden: die Zuspitzung der Klimakrise und die Degradierung der Ökosysteme, damit zusammenhängend die Zunahme von Hungersnöten, erzwungene Migration und rapide steigende volkswirtschaftliche Kosten für die Behebung der Schäden.
Mag. Hans Holzinger ist Nachhaltigkeitsexperte, Sachbuchautor und Mitglied von Scientists for Future sowie des Beirats des Friedensbüros Salzburg.