“Unsere Gesellschaft ist nicht so gespalten, wie es oft dargestellt wird.”

Lena Schilling - Bild: Christopher Glanzl

Lena Schilling im Gespräch mit Anouk Kaltenbach

Bei der Tagung „Gespalten?“ nimmt die Klimaaktivistin Lena Schilling am Diskurspanel „Polarisierung und zivilgesellschaftlicher Widerstand“ teil. Das Interview stammt aus der Kranich-Ausgabe 2/2023.

Kranich: Ein steigende „gesellschaftliche Polarisierung“ wird in den letzten Jahren von Medien und Politik diagnostiziert. Wie erleben Sie selbst Polarisierung in ihrem Alltag?

Lena Schilling: Ich glaube, dass Polarisierung in allen Themenbereichen in Krisenzeiten immer verstärkt wird. Wenn wir uns mit Krisen beschäftigen, wie zum Beispiel mit der Klimakrise, dann ist das ein Thema, dass durch die Debatten, die geführt wurden, polarisiert ist. Ich möchte kurz erklären, was Polarisierung aus meiner Sicht ausmacht: Polarisierung bedeutet, dass es starke Pole gibt, die in Gegensatz zueinander stehen, allerdings vielleicht manchmal weniger als man denkt. Ich gehe davon aus, dass die tatsächlichen Positionen oft viel näher beieinander liegen als man denkt, aber sie werden durch einen Diskurs, der vergiftet ist, auseinandergetrieben.

Kranich: Sie haben gerade von einem „vergifteten Diskurs“ gesprochen. Was genau meinen Sie damit und wo kommt dieser „vergiftete Diskurs“ aus Ihrer Sicht her?

Lena Schilling: Das ist eigentlich recht einfach. Politik ist das Kämpfen um Interessen und die Durchsetzung von Interessen. Dies bedeutet, dass es verschiedene Akteur*innen gibt, die verschiedenen Zielsetzungen haben. Durch diese verschiedenen, sich teils entgegenstehenden
Zielsetzungen entsteht ein Diskurs, der meistens sehr stark interessengetrieben in einen Konflikt geführt wird.

Das gilt für ganz klassische Interessenskonflikte wie beispielsweise Arbeiter*innenkämpfe, in denen Gewerkschaften gegen die industrielle Vereinigung kämpfen. In diesen klassischen Interessenskonflikten gibt es klare und bekannte Akteur:innen, die gegeneinander stehen. Das gilt aber ebenso für Kulturkampf-Themen. Wenn wir über die Klimakrise reden, ist das zum Beispiel die Mobilität und der Autoverkehr, die extrem wichtig sind. Aber wieso gibt es um diese Themen einen solchen Kulturkampf? Weil die Autolobby jahrzehntelang sehr viel dafür getan hat, ein Gefühl mit einem Gegenstand zu verbinden, das heißt Freiheit mit dem Auto. Wenn man jetzt Menschen das Gefühl gibt, das wegnehmen zu wollen, entsteht Angst. Vergiftete Diskurse werden meist durch Angst geführt.

Kranich: Ist diese Polarisierung dann immer etwas Negatives und Vergiftetes? Oder gibt es aus Ihrer Sicht auch positive Seiten?

Lena Schilling: Wenn man Polarisierung als Spaltung versteht, als Pole die nicht aufeinander zugehen, dann ist es etwas Negatives. Wenn man Polarisierung aber eher als eine Meinungsvielfalt sieht, die in einem guten Austausch und auch einer guten Diskussion geführt wird, ist es vollkommen in Ordnung, dass es verschiedene Meinungen gibt. Genauso soll es in Demokratien ja sein. Mein Problem ist, dass die Polarisierung in der Gesellschaft oft aus einem Gefühl von Angst kommt, und das ist nie eine gute Basis.

Kranich: Was wären Strategien, um gegen diese negative Form der Polarisierung anzukommen?

Lena Schilling: Es ist im Grunde super simpel: Miteinander reden. Was wir als Gesellschaft viel zu wenig machen und wofür wir auch viel zu wenig Raum haben, ist uns tatsächlich miteinander auseinanderzusetzen, nicht in einem Streitgespräch in irgendeinem TV-Format, indem man sich eine Stunde lang ständige Fakten und Meinungen an den Kopf wirft. Was es viel zu wenig gibt, ist eine Kultur, in der man sich miteinander befasst und in erster Linie auch mal zuhört und nachfragt „Woher kommt denn das Gefühl?“ oder „Woher kommt diese Einstellung?“.

In den meisten Fällen, wenn man sich mit Menschen unterhält und ihnen wirklich zuhört, hat man dann das Gefühl, auch wenn man oft trotzdem nicht der gleichen Meinung ist, dass man die Meinung des Anderen mehr akzeptieren kann, wenn man versteht, woher sie kommt, und man findet leichter wieder zusammen. Ein ganz einfaches Beispiel dafür ist meine Familie. In meiner Familie wird so ziemlich alles gewählt. Mein Großvater war lange Bezirksrat für die FPÖ, und meine Mutter leitet ein Flüchtlingshaus. Das führt natürlich zu einer sehr polarisierten Debatte. Am Familientisch ist auch viel gestritten worden, aber weil gestritten wurde, konnte man noch miteinander reden. Die Positionen haben sich dadurch nicht unbedingt angenähert, aber es gab dann wenigstens Verständnis dafür, woher die Position des Anderen kommt, und man konnte zusammenleben.

Kranich: Wenn ich Sie richtig verstehe, würden Sie sagen Polarisierung wird nur dann zu einem Problem, wenn man nicht mehr miteinander sprechen kann?

Lena Schilling: Ja, und wenn eine Abwertung von anderen Positionen stattfindet. Das geht oft miteinander einher. Wenn man über Themen spricht und die Argumente der Gegenseite von vorneherein als falsch abtut, ohne wirklich zuzuhören, dann hat man nicht die Möglichkeit in einen Diskurs zu treten, zumindest nicht in einen ehrlichen.

Kranich: Sie haben ja schon sehr viel aktivistisch gearbeitet, bei „Fridays for Future“, mit der Gründung des „Jugendrat“, als Sprecherin für „Lobau bleibt“. Wie nehmen Sie Polarisierung in Ihrer aktivistischen Arbeit wahr?

Lena Schilling: In meinen Themenfelder gibt es oft eine natürliche Polarisierung. Wenn man beispielsweise eine Baustelle besetzt, gibt es viele Akteur*innen, die dagegenstehen. Am unmittelbarsten sind das die Arbeiter*innen, die auf der Baustelle arbeiten sollten aber nicht können, das führt natürlich zu einem Konflikt. In diesem Moment kann man dann aufeinander zugehen. Wir haben dann begonnen mit Gewerkschaften zu reden, um sicherzustellen, dass die Arbeiter*innen einen Lohnausgleich bekommen. Und wir haben uns darum bemüht, dass wir mit den Arbeiter*innen eine ähnliche Position findet. Wir haben gesagt „Wir verstehen, dass das für euch gerade beschissen ist. Wir wollen euch nichts Schlechtes. Versuchen wir doch gemeinsam eine Lösung zu finden.“

Und das ist auch mein persönliches Ziel in der aktivistischen Arbeit. Im Aktivismus sollte man immer das Ziel verfolgen Hegemonie zu verändern. Demokratien bewegen sich nur durch Mehrheiten. Wir als Aktivist*innen müssen also Mehrheiten für unsere Anliegen schaffen und dementsprechend auch immer versuchen möglichst viele Menschen mitzunehmen. Das wäre auch eine kleine Kritik an der „Letzten Generation“. Ich habe das Gefühl, dass das dort nicht passiert. Das man gar nicht den Anspruch hat, die Menschen mitzunehmen, und das finde ich nicht richtig. Viele Menschen zu überzeugen und mitzunehmen ist essentiell, wenn man politische Arbeit macht.

Kranich: Unsere Tagung, bei der du als Referentin dabei sein wirst, heißt ja „Gespalten? Polarisierung und gesellschaftlicher Zusammenhalt“. Wir reden oft sehr viel über Polarisierung und Spaltung aber eher wenig über den Zusammenhalt. Welche Rolle spielt gesellschaftlicher Zusammenhalt im Kontext von Protest und Aktivismus?

Lena Schilling: Gesellschaftlicher Zusammenhalt spielt eine extrem große Rolle für aktivistische Arbeit. Wir können uns die Gesellschaft wie ein Haus vorstellen, das wir uns alle teilen und das unser gemeinsames Zuhause ist. Multiple Krisen von Corona über Finanzkrisen, Inflation, Klimakrise, Krieg, haben in den letzten Jahren tiefe Risse hineingegraben. Wir sehen dieses Fundament wackelt, und wir müssen gemeinsam die Spachtelmasse anrühren und bereit sein, diese Risse auch gemeinsam wieder zuzumachen. Das ist ein großer Akt, weil das Fundament irgendwie gehalten werden muss, und das können wir nicht alleine.

Ohne die Auseinandersetzung mit dem Thema und ohne einander werden wir das nicht schaffen. Wir reden immer über die gespaltene Gesellschaft, ich glaube nicht, dass unsere Gesellschaft so gespalten ist. Wir haben auch viel Zusammenhalt in dieser Gesellschaft geschaffen.

Was es noch braucht, ist eine andere Debattenkultur und ein anderer medialer Diskurs. Der mediale Diskurs spitzt unterschiedliche Meinungen zu und die Berichterstattung ist oft viel radikaler, als die Menschen es eigentlich sind. Dadurch sind die Medien aber auch meinungsgebend. Ich möchte einen Appell an Medien und Journalist*innen schicken: Ich verstehe, dass man Schlagzeilen braucht, das muss aber nicht dazu führen, dass man so tut, als würde es nicht auch Gemeinsamkeiten geben. Unsere Gesellschaft ist nicht so gespalten, wie es oft dargestellt wird.

Kranich: Vielen Dank für das Gespräch und die spannenden Einblicke.

Lena Schilling ist 22 Jahre alt, Klimaaktivistin und Autorin. Studiert Politikwissenschaften und hat die unabhängige Jugendorganisation “Jugendrat” gegründet. Sprecherin von “Lobau bleibt”, Wien.

Foto: Christopher Glanzl